Meine sehr verehrten Damen und Herren,
als man mich bat, anlässlich des Neujahrsempfangs 2008 über die Herausforderungen in der Bildungslandschaft zu reden, habe ich mir vorgenommen, zu allererst ein Lob auszusprechen. Auch wenn ich nun Gefahr laufe, einige der Anwesenden zu enttäuschen, die berechtigterweise hoffen können, es werde ihnen gelten, beschränke ich mich darauf, den Vertretern der Stadt und der Samtgemeinde meine Anerkennung auszusprechen, die verantwortlich sind für den Gedanken, Bildung zum inhaltlichen Gegenstand eines Neujahrsempfangs zu machen.
Sie wissen so gut wie ich, dass Bildungspolitik und Schulpolitik wie wenige andere Themen geeignet sind, in der Öffentlichkeit aufs Heftigste diskutiert zu werden. Dies gilt nicht nur aber vor allem in Zeiten des Wahlkampfes. Ich werde Ihnen jetzt nicht auflisten, welche konkreten Bau- und anderen Maßnahmen die Kommune geschafft hat und ich werde diesbezüglich auch keine Forderungen aufstellen. Den kommunalpolitischen Anteil habe ich dem Bürgermeister überlassen. Ich habe mir allerdings auch vorgenommen, mich heute wenig über die Bildungslandschaft Niedersachsen auszulassen. Vielmehr ist es mir wichtig, den Blick auf einige Herausforderungen, die uns in Stadt und Samtgemeinde begegnen, zu lenken, die sonst vielleicht nicht im Vordergrund der Betrachtung liegen.
Die Begrenzung ist mir deshalb wichtig, weil aus meiner Sicht viel zu viele Ansichten über das, was in Schul- und Bildungspolitik notwendig ist, von der besonderen Situation der großen Zentren geprägt sind. Das gilt nicht nur für die in Politik und Kultusbehörden Zuständigen, es gilt in besonderem Maße für die Medien, für die Verbände, auch für viele, die unmittelbar mit Schule und Erziehung zu tun haben.
Ich bin beispielsweise immer ein wenig verärgert, wenn ich in einer Elternzeitschrift oder in einem mehr oder weniger bekannten Hamburger Magazin lese, was Eltern alles beachten sollen, um für ihre Kinder die beste Schule zu finden. In den meisten ländlichen Regionen, so wie bei uns, stellt sich diese Frage überhaupt nicht. Hier finden die Eltern eine begrenzte Auswahl an vorschulischen Einrichtungen, eine bestimmte Grundschule, und im Regelfall auch nur eine einzige weiterführende Schule in der entsprechenden Schulform vor. Sie sind demnach darauf angewiesen, dass in diesen vorhandenen Einrichtungen eine Qualität geboten wird, die dem Anspruch gerecht wird, jedem Kind den Erwerb einer zu ihm passenden Bildung zu ermöglichen.
Bildungsbezogene Qualitätsverbesserung im ländlichen Raum muss also im Rahmen des hier Möglichen als eine gemeinsame Aufgabe der Eltern, der Lehrkräfte, der Erzieherinnen, der Träger der Bildungseinrichtungen, des Landes Niedersachsen und teilweise auch des Bundes beschrieben werden.
Wenn im Thema dieses Vortrags von ‚Herausforderungen’ die Rede ist, so müssen wir uns fragen, welche der genannten Beteiligten denn hier vor Ort herausgefordert sind. Und mit welchem Ziel sie sich herausgefordert sehen sollten!
Ich werde mir folgerichtig erlauben, den Bund hier vorübergehend aus seiner Verantwortung zu entlassen, und auch das Land Niedersachsen nur in so weit jeweils am Rande zu erwähnen, als es verantwortlich ist für das Anbieten von personellen Ressourcen, sprich Bezahlung der Lehrkräfte, für die gesetzliche Gestaltung der Strukturen und dafür, wie die inhaltlichen und rechtlichen Rahmen gesteckt werden.
Die Schulstrukturen werden im Übrigen nicht mein Thema sein. Es ist sehr beliebt, sich in schulpolitischen Debatten in eben diesen Bereich zu flüchten. Es mag sein, dass auch in unserem Raum Gesamtschulen sinnvoll wären, es mag auch sein, dass wir zu den besten Erfolgen mit der augenblicklich vorgefundenen Struktur kommen. Bedenklich ist es, wenn diejenigen, die über die aus ihrer Sicht beste Struktur diskutieren, dabei die Möglichkeit, verantwortlich und gestaltend einzugreifen, aus den Augen verlieren. Im Übrigen spreche ich zu Ihnen als Leiter einer Gesamtschule.
Immer nur neue Strukturen zu schaffen, kommt mir vor, als wolle man lediglich neue Fabrikationshallen um die alten Anlagen herum erbauen, weil man mit den Produkten unzufrieden ist. Es ist fraglich, ob es ausreicht, ein neues Gebäude zu bauen, oder nur die Räume im Gebäude anders anzuordnen oder gar die Gebäude im Gelände anders aufstellen, um zu einer besseren Qualität der Arbeit in diesen Gebäuden zu gelangen.
Ich will damit sagen, dass strukturelle Verbesserung nicht automatisch Qualitätsverbesserung bedeutet, auch wenn andererseits Qualitätsverbesserung oft strukturelle Unterstützung braucht. Aber leider ist es möglich, indem man über das Gebäude streitet, von der eigenen Beteiligung abzulenken und auf andere zu zeigen. Wenn wir aber nicht agieren, sondern immer andere auffordern, ihre Hausaufgaben zu machen, werden wir viele Ziele nicht erreichen.
Lassen Sie mich also versuchen, diese Ziele zu beschreiben.
Grob gesagt geht es darum, den Menschen, insbesondere unseren eigenen und den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen, Bildung zu ermöglichen. Dabei ist der Begriff Bildung nicht dadurch zu erfassen, dass wir dem Bildungsauftrag aus dem niedersächsischen Schulgesetz zitieren. Dies ist für die schulische Bildung bedeutsam, Bildungsarbeit beginnt aber bereits im Kindergarten und endet keineswegs mit der Schule.
Und weil das Wort Bildung von jedem hier im Raum anders verstanden werden kann, will ich Ihnen wenigstens andeutungsweise darlegen, was ich darunter verstehe.
Es ist sinnvoll, Bildungserwerb vom reinen Wissenserwerb abzugrenzen. Unstrittig wird sein, dass es notwendig ist, einem Kind zu ermöglichen, Wissen zu erwerben und Fertigkeiten zu entfalten, damit Bildung möglich wird. Seit den achtziger Jahren fand sich in der Fachliteratur durchaus die Anschauung, dass Bildung durch Wissen herbeigeführt werden kann.
Eine gebildete Person zeichnet sich dadurch aus, dass sie über ein System gewünschter moralischer, ethischer und kultureller Einstellungen verfügt, welches ihr verantwortliches Handeln ermöglicht. Die eben beschriebene Sichtweise ist also so zu verstehen, dass man nur genügend umfangreiche Mengen von Wissen anbieten muss, damit sich diese Einstellungen herausbilden. Leider ist es auch hier wie so oft im Leben, wenn die Devise „Viel hilft viel“ angewendet wird: Man steckt viel hinein, und hofft, dass irgendetwas davon wirkt. Doch wie sagt Eugen Roth: „Verdrossen liest man dies Gedicht, so müsst es sein, so ist es nicht.“
Denn dieser Weg lässt einiges außer Acht.
Erstens: Die Auswahl geeigneten Wissens ist entscheidend. Die gewünschte Wirkung wird nicht eintreten, wenn die Lernangebote die Adressaten gar nicht erreichen.
Zweitens: Angeeignetes Wissen wird meist nur dann positiv wirksam, wenn es nicht nur kurzfristig sondern auch langfristig für den Handelnden zur Verfügung steht.
Drittens: Viele Einstellungen entstehen nicht durch Wissen. Oft ist im Gegenteil für den erfolgreichen Erwerb von Wissen bereits das Vorhandensein geeigneter Einstellungen die Grundlage.
Viertens: Wir erleben häufig genug, dass Wissen nur dann sinnvoll wirkt und erhalten bleibt, wenn es auch angewendet werden kann.
Generell ergibt sich, dass wir wenig Wirkung erzielen, wenn wir einfach nur Gemenge aus Geeignetem und Ungeeignetem wie mit dem Nürnberger Trichter in Kinder hineinstopfen. Wir müssen auch Raum lassen, sich mit den Angeboten selbstständig auseinanderzusetzen, das eigene Denken und Handeln zu entwickeln. Dazu ein Zitat: „Nicht die Masse dessen, was man weiß oder gelernt hat, macht die Bildung aus, sondern die Kraft und Eigentümlichkeit, womit man es sich angeeignet hat und zur Auffassung und Beurteilung des ihm Vorliegenden zu verwenden versteht. ... Nicht der Stoff entscheidet über die Bildung, sondern die Form.“ *
( *Friedrich Paulsen, Enzyklopädischen Handbuch der Pädagogik, 1903 )
Dass diese Gedanken insgesamt nicht neu sind, erkennen Sie jetzt daran, dass dieses Zitat aus dem Jahr 1903 stammt, und ähnliche Gedanken finden wir schon bei Kant, Humboldt oder anderen.
So langsam müssten Sie anfangen, sich zu fragen, wie ich denn die Kurve kriegen will zu der Bildungslandschaft in unserem Raum. Das wird mir in der zur Verfügung stehenden Zeit wirklich nur dann gelingen, wenn ich mir einzelne Bildungsbereiche und gewünschte Einstellungen beispielhaft herauspicke oder mich mit einzelnen Fähigkeiten befasse.
Nehmen wir eine bekannte Grundfähigkeit. Heute ist es leider oder Gott sei Dank nicht mehr so, dass man sich rühmen darf, „das Schreiben und Lesen ist nie mein Fach gewesen“. Wer heute Schweine züchtet, sollte ein wenig davon beherrschen. Nur wird sich ein Kind, sagen wir im Alter von drei oder sieben oder 10 oder von mir aus 15 Jahren herzlich wenig dafür interessieren, ob sein Schreiben lernen für eine spätere Berufsausbildung nötig ist, auch nicht, wenn wir ihm in Aussicht stellen, dass es damit Schweinezüchter werden darf.
Im Übrigen erklärt der ökonomische Nutzen des Lesens nicht einmal im Ansatz, welche herausragende Bedeutung es für die Bildung des Kindes haben könnte. Lesen, und noch mehr schreiben, werden für das Kind nur dann positiv besetzt sein, wenn ihre Bedeutung auch in seiner Lebenswelt erkennbar ist. In einer Umwelt, in der nicht gelesen wird, wird auch ein Kind Freude am Lesen zunächst nur schwer ausbilden können. Beim Schreiben verhält es sich ähnlich, insbesondere wenn es um regelgerechtes Schreiben geht. Wie soll ein Kind die Bedeutung regelgerechten Schreibens erkennen können, wenn in seiner Umwelt außer auf einem Einkaufszettel kaum noch geschrieben wird. Wie soll dem Jugendlichen der Wert von Schreibregeln vermittelt werden, wenn in jedem Internetforum geschrieben wird, wie dem User gerade der Schnabel gewachsen ist, wie, wenn selbst auf großen Wahlplakaten Rechtschreibregeln missachtet werden.
Einigen Kindern wird, da in ihren Familien gelesen und geschrieben wird, diese Fähigkeit auch selbst Freude machen. Sie werden erleben, dass man sich mit Lesen Informationen beschaffen kann und dass man sich mit einem guten Buch Erlebnisse ermöglicht, die in dieser Form auf anderem Wege nie erreicht werden können. Sie werden erleben, dass eine Verfilmung von Harry Potter nicht die Qualität des Buches erreicht und das eine Pippi Langstrumpf oder eine Heidi im Buch andere Personen sind als die im Zeichentrickfilm.
Den vielen aber, die diesen Zugang nicht mehr haben, nützt es nichts, wenn wir ihnen die Technik des Lesens beibringen. Einen wirkungsvollen Beitrag zu ihrer Bildung leisten wir dann, wenn wir Ihnen auch das positive Erleben ermöglichen.
Dies kann unter anderem bedeuten, dass es notwendig ist, die Art und Weise wie in der Schule gelesen wird, zu überdenken oder dass es notwendig ist, dem Vorlesen auch im Kindergarten eine neue Bedeutung zu geben. Dies kann aber auch bedeuten, dass es notwendig ist, Schulen umzugestalten, um Leseräume zu schaffen, die positives Erleben und Empfinden möglich machen, denn nur das, was wir positiv erleben, was mit positiven Erfahrungen verbunden ist, wird auf Dauer zur Bildung von positiven Einstellungen bei der zu bildenden Persönlichkeit beitragen.
Uns ist in auch in der aktuellen Pisa-Studie wieder bescheinigt worden, dass soziale Unterschiede stark über den Schulerfolg mitentscheiden. Im Beschriebenen deutet sich ein Weg an, wie wir diesem Missstand weiter entgegenwirken können.
Auch andere Bereiche des Lernens müssen in diesem Sinne umgestaltet werden. Im Bereich der Samtgemeinde streben derzeit etwa 1/5 bis ¼ der Kinder nach der Grundschulzeit den Weg zum Abitur über das allgemeinbildende Gymnasium an. Ein nicht unerheblicher Teil der Schülerinnen und Schüler, die die Realschule besuchen, versucht später an berufsbildenden Schulen ebenfalls weitere Abschlüsse zu erreichen. Andere streben nach Abschluss der Haupt- oder Realschule zunächst eine Berufsausbildung an.
Wir werden wohl kaum einmal in der Lage sein, in unserer Region einem Kind verbindlich die Zusage machen zu können, dass es, wenn es denn nur fleißig lerne, später auf einem dieser Wege gesichert zu einer Berufsausübung kommen wird. Wir werden ihm mit dem vermittelten Wissen nicht einmal Aussichten auf guten Lebenserfolg machen können. Wer ehrlich ist, weiß, dass Lebenserfolg sich nicht unmittelbar von Schulerfolg ableiten lässt.
Sicher ist aber auch, dass diese Weisheit nicht umkehrbar ist. Bildung garantiert zwar keinen Lebenserfolg, aber sie ermöglicht ihn.
Wenn wir die Maxime der finnischen Schulen „Kein Kind wird zurückgelassen“, auch für uns wirksam werden lassen wollen, und das wünsche ich mir ausdrücklich, bedeutet das für Erziehende, zu versuchen, jedem Kind soviel Bildung wie möglich zukommen zu lassen, ihm aber auch Räume zu geben, die die Entfaltung ermöglichen. Hier sind dann auch die Träger gefragt. Hier zu investieren ist allemal günstiger, als später Maßnahmen der Berufsfindung, der Umschulung, der Jugendhilfe oder gar des Jugendstrafvollzugs zu finanzieren. In diesem Sinne darf auch der so genannte demografische Wandel nicht als Argument herhalten, Bildungseinrichtungen in Zeiten knapper Kassen zurückzufahren. Der Wert einer Kommune wird sich grade in den sich entwickelnden demografischen Konkurrenzsituationen an den in ihr gebotenen Bildungsmöglichkeiten zeigen.
Wir sind hier sicherlich gut gestartet. In der Samtgemeinde und Stadt ist der Wert der Bildungseinrichtungen erkannt worden und die Anstrengungen, auch in finanzieller Hinsicht, die zur Ausgestaltung derzeit unternommen werden, sind ausdrücklich zu loben. Wir sind nicht am Ende unserer Anstrengungen, haben aber bereits bedeutsame Etappenziele erreicht.
Kindergärten und Schulen erleben zurzeit eine Epoche heftiger inhaltlicher Veränderung. Wir dürfen uns freuen, dass die Bildungseinrichtungen sukzessive ausgebaut werden, um noch bestehende Lücken zu füllen. Ich denke in diesem Zusammenhang zum Beispiel an die Möglichkeiten einer Nachmittagsbetreuung.
Es gelingt uns auch zunehmend, die Arbeit der Bildungseinrichtungen miteinander zu verzahnen. Als besonderes Beispiel für diese Zusammenarbeit sei das Modellprojekt „Brückenjahr“ genannt. Darin fördert das Land etwa 200 Modelle für eine besondere Zusammenarbeit im Bereich des Übergangs vom letzten Kindergartenjahr in die Eingangsphase der Grundschule, und erfreulicherweise hat auch Stadtoldendorf den Zuschlag bekommen.
Vor nicht allzu langer Zeit ist in einem aufwendigen Prozess ein Leitbild für Kinder und Jugendliche in Stadtoldendorf entwickelt worden. Wenn wir dieses Leitbild ernst nehmen, wird es in Zukunft zu weiteren wichtigen Vernetzungen zwischen Bildungsträgern kommen müssen. Ich denke in diesem Zusammenhang auch, um Beispiele zu nennen, an die wichtige Arbeit der Vereine oder der Jugendfeuerwehr.
Ich hoffe, dass sich niemand, weil ich nur zwei Beispiele genannt haben, von diesem Prozess ausgeschlossen fühlt. Im Gegenteil: Abschließend möchte ich deutlich an diejenigen, die zumindest beruflich nicht unmittelbar damit zu tun haben, appellieren, sich am Bildungsprozess zu beteiligen,.
Ich habe vorhin von Werten gesprochen, die ein Kind zu seinen eigenen machen soll, und die ihrer Gesamtheit seine Bildung wesentlich charakterisieren. Dafür müssen wir jedes Kind dort abholen, wo es in der Gesellschaft steht.
Es gäbe einige Aspekte, über die in diesem Zusammenhang nachzudenken wäre. Etwa über die Bedeutung der hohen Zahl der Kinder mit Migrationshintergrund in unserem Raum. Schließlich stammt bei uns zwischen einem Drittel und der Hälfte der Kinder, die in die Schule kommen, aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil nicht mit der deutschen Sprache aufgewachsen ist. Ich hätte auch über Folgerungen sprechen können, die sich aus der ökonomisch-sozialen Lage in Stadtoldendorf ergeben können.
Aber ich hatte nicht vor, eine Diskussion über Einzelbereiche und schon gar nicht über einzelne Maßnahmen zu entfachen. Wir brauchen nicht nur Aktionen, sondern wir brauchen vor allem ein gemeinsames Ziel vor Augen. Dann, da bin ich sicher, werden wir auch einen Weg finden.
Für gemeinsame Ziele aber müssen wir auch darüber nachdenken, welches denn gewünschte Einstellungen eines Kindes sind. Ich meine so etwas wie Respekt, Unterstützungsbereitschaft gegenüber Hilfebedürftigen, Rücksichtnahme, Verlässlichkeit, Verantwortungsbereitschaft, oder Toleranz.
Kurz gesagt: Wenn wir wollen, dass Kinder und Jugendliche Tugenden pflegen, dann müssen wir sie auch selbst hochhalten. Wenn beispielsweise in Gruppen, in sportlicher Konkurrenz, in Schulklassen oder Fernsehserien das Herabwürdigen anderer oder das Sich-Durchsetzen auf Kosten anderer gefördert oder gar als vorbildlich hingestellt werden, dürfen uns über respektlosen Umgang unter den Kindern eigentlich nicht wundern. Verantwortlich handelnde oder zum verantwortlichen Handeln fähige Menschen werden wir nur heranbilden, wenn wir ihnen im positiven Sinn auch die Fähigkeit zum Leben und Arbeiten in einer Gemeinschaft präsentieren.
Interessant finde in diesem Zusammenhang, wie heute Kinder argumentieren können, von denen man das strenge Einhalten von Regeln fordert. Mir sagte ein Achtjähriger, dem ich deutlich zu machen versuchte, dass alle Menschen gesetzte Regeln einhalten müssen, man müsse auch gucken, ob die Regel überhaupt für einen gilt. Da wo Geschwindigkeitsbeschränkungen auf der Straße sind, bestimme sein Vater immer, ob sie gelten, denn er wisse besser, wie schnell man hier fahren könne. Und Mama schimpft dann immer. Wenn wir aufgestellte Regeln für interpretierbar behalten, dann werden auch unsere Kinder nicht ernst nehmen und nicht umsetzen, was generell gilt.
Als eine der Einstellungen eines gebildeten Menschen habe ich die Toleranz genannt. Das möchte ich noch ein wenig präzisieren. Ich nehme ich mir vor, Toleranz gegenüber Andersartigkeit auch weiterhin zu pflegen. Kinder müssen lernen, auch diejenigen als Menschen und Partner zu schätzen und zu achten, die nicht der Norm und nicht der Mode entsprechen, sei es, dass sie anderer Herkunft sind, andere Vorlieben haben, dass sie Behinderungen haben oder Denkweisen und Kreativität, die nicht mit der ihren deckungsgleich ist.
Andererseits gilt es, gemeinschaftsfeindlichen Tendenzen gegenüber durchaus seine Ablehnung zu zeigen. Ich meine damit, dass ich es begrüße, gegenüber Respektlosigkeit, Gewalt und Herabwürdigung keinerlei Toleranz zu zeigen - wir kennen dafür den englischen Begriff der ‚zero-tolerance’.
Ich weiß gar nicht, ob es in anderen Ländern auch verpönt sein kann, wenn Kinder darauf vertrauen und darauf bestehen, dass Regeln eingehalten werden, gerade die, die ihnen die Erwachsenen gezeigt haben. In Deutschland kann es einem Kind passieren, dass es, Gerechtigkeit suchend, als Petze bezeichnet wird. Ich glaube nicht, dass sich das Wort petzen überhaupt direkt in andre Sprachen übersetzen lässt, ob das andere Länder so kennen. In England wird dem Kind höchstens vorgeworfen, dass es ausgedachte Beschuldigungen vorbringt; es gibt nicht das Wort ‚petzen’, sondern nur ‚telling tales’ ‚Märchen erzählen’. Auch in Frankreich gibt es meines Wissens kein direkt vergleichbares Wort in der Sprache der Erwachsenen. Es lohnt sich wohl, darüber nachzudenken, wie wir es mit der Einhaltung der Regeln und der sinnvollen Gepflogenheiten dann halten, wenn sie uns im Moment gerade unbequem sind. Wenn Kinder etwas auszeichnet, dann ihr unbedingtes Streben nach Gerechtigkeit. Das sollten wir auch von Beginn an pflegen. Wenn kleine Jungen auch nicht mehr dürfen als Mädchen, nur weil sie Jungen sind, und Mädchen nicht mehr erlaubt wird, nur weil sie Mädchen sind, dann sind wir auf dem Wege, in Sachen Gerechtigkeit unsererseits von den Kindern zu lernen.
Vieles, was wir an Kindern sehen, ist Spiegelbild oder Folge unserer eigenen Einstellungen. Wir sind also alle herausgefordert, etwas zum Ausbau der Bildungslandschaft zu blühenderen Gärten beizutragen. Vielleicht können wir dann später einmal sagen: Früher hatte Bildung in Finnland einen höheren Wert in der Gesellschaft als in Deutschland. Früher.
Ich wünsche Ihnen und den Kindern und Jugendlichen, von denen ich sprach, von ganzem Herzen ein gutes und erfolgreiches neues Jahr 2008.
Sie haben es soeben geduldig begonnen, und dafür danke ich Ihnen. |